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Benedikt-Anliegen

Am spirituellen Herzschlag der heutigen Welt

Ein Gespräch mit Pablo Blanco Sarto und Francesc Torralba Rosellò, Träger des Ratzinger-Preises 2023, über die Theologie des verstorbenen Papstes Benedikt XVI. Von Jose Garcia

Wann haben Sie Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. als Theologe für sich entdeckt?

Pablo Blanco: Ich begann im Jahr 2001 mit einer Doktorarbeit über ihn. Damals war er als Autor noch nicht ganz anerkannt. Ich schloss die Dissertation nur einen Monat vor seiner Wahl zum Papst ab – ein seltsamer Zufall. Ich lebte damals in München, wo die herrschende Atmosphäre von Begeisterung bis zu Misstrauen reichte, aus der ich jedoch viel gelernt habe. Ich bin auch sehr dankbar für die Behandlung, die ich an der Fakultät für Evangelische Theologie erfahren habe. Nachdem ich mich mit dem Verhältnis von Glaube und Vernunft sowie seiner Religionstheologie beschäftigt hatte, beschloss ich – auf Anregung der inzwischen verstorbenen deutschen Theologin Jutta Burggraf, die damals an unserer Universität lehrte –, sein theologisches Denken systematisch zu untersuchen. Ich habe viel gelernt, und Ratzinger wurde auf diese Weise zu meinem wichtigsten Lehrer in Theologie.

Francesc Torralba: Während meiner theologischen Ausbildung hatte ich die Gelegenheit, ihn eingehend zu studieren. Ich erinnere mich besonders an seine „Einführung in das Christentum“, aber auch an seine Ekklesiologie und Christologie. Ich war sehr interessiert an seiner Rezeption zeitgenössischer Philosophen wie Friedrich Nietzsche, Søren Kierkegaard, der ersten Generation der Frankfurter Schule und Karl Marx. Mich fesselte sein subtiles spekulatives Bemühen, eine rationale Grundlage für die Wahl des Glaubens zu finden, jenseits von blindem Fideismus und krudem Rationalismus. Seine ersten beiden Enzykliken „Deus cariats est“ und „Spe Salvi“ haben einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen.

Was finden Sie persönlich an der Theologie von Joseph Ratzinger am herausragendsten? 

Pablo Blanco: Am bemerkenswertesten ist seine innere Stimmigkeit, seine innige Einheit zwischen den verschiedenen Bereichen der Theologie. Ratzinger verfasste keine systematische Dogmatik wie die meisten großen Theologieprofessoren. Sein Denken ist vielmehr spontan entstanden, je nach seinem Dienst in der Kirche als Priester, Erzbischof, Präfekt, Papst oder emeritierter Papst. Was als Schwäche erscheinen mag, ist in Wirklichkeit seine größte Stärke, da es uns eine Denkweise vermittelt, die in direktem Kontakt mit der Realität steht. Papst Franziskus betont die pastorale Dimension der Theologie, und ich glaube, dass Ratzingers Theologie diese innehat.

Francesc Torralba: Sein Werk ist sehr umfangreich, gelehrt, stringent und komplex. Es ist sehr schwierig, es in ein paar Stichworten zusammenzufassen. Ich hebe drei entscheidende Elemente hervor: seine Kritik an der Diktatur des Relativismus und des Fundamentalismus, seinen philosophischen und theologischen Vorschlag einer Ökonomie der Gabe, die den globalisierten Neoliberalismus, der die Welt beherrscht, überwindet und sich am Prinzip der Unentgeltlichkeit orientiert, und seine Kritik am technokratischen Paradigma, das die Technik sakralisiert und sie zum Erlöser all unserer Übel macht.


Welches Werk von Joseph Ratzinger halten Sie für besonders relevant in unserer Zeit?

Pablo Blanco: Für mich ist das beste Werk des bayerischen Theologen sein „Jesus von Nazareth“, denn es enthält nicht nur eine Synthese seines Denkens, sondern auch eine zeitgemäße Betrachtung der Gestalt Jesu Christi. Darin setzt er sich mit den besten Vertretern der gegenwärtigen katholischen und lutherischen Exegese und Christologie auseinander, vor allem in deutscher Sprache, sowie mit einigen interessanten Ansätzen des ostorthodoxen Denkens. Für mich ist es das Buch seines Lebens. Es ist bemerkenswert, dass er während seines Pontifikats und trotz seiner vielen Verpflichtungen nie aufgehört hat, an diesem Werk zu schreiben. Vielleicht weil er es als eine der zentralen Aufgaben seines Amtes ansah, über Jesus Christus zu sprechen.

Francesc Torralba: Ich habe Joseph Ratzingers Werk sorgfältig gelesen, von seiner „Einführung in das Christentum“ von 1968 bis zu seiner jüngsten Enzyklika „Caritas in veritate“. Besonders interessiert hat mich sein Wunsch, das Konzept der modernen Rationalität zu erweitern und die positivistische Sichtweise zu überwinden. Seine Auseinandersetzung mit Philosophen des Misstrauens wie Friedrich Nietzsche und Karl Marx finde ich sehr anregend. Seine Bereitschaft zum Dialog mit den großen zeitgenössischen Denkern, insbesondere mit Jürgen Habermas, halte ich für sehr wichtig.

Gibt es Ihrer Meinung nach eine Kontinuität zwischen dem Zweiten Vatikanum, Johannes Paul II. und Benedikt XVI.?

Pablo Blanco: Meiner Meinung nach gibt es eine eindeutige und direkte Kontinuität. Johannes Paul II. arbeitete hauptsächlich an der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ und dem Dekret über die Religionsfreiheit, die sich mit anthropologischen, ethischen und praktischen Fragen befassen. Ratzinger beschäftigte sich mit eher spekulativen Themen wie der Ekklesiologie, dem Verhältnis von Schrift und Tradition sowie der Missionstheologie und auch dem theologischen Teil der genannten Pastoralkonstitution. Wojtyla und Ratzinger waren sehr unterschiedlich, aber sie ergänzten sich sehr gut. Vielleicht können wir auch hier etwas lernen: Wie man trotz bestehender legitimer Unterschiede eine fruchtbare Zusammenarbeit findet. Es geht darum, einen tiefen Kern von Harmonie und Gemeinsamkeit zu entdecken.

Francesc Torralba: Ich glaube, dass Ideen aus seinem Lehramt vollkommen im Einklang mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil stehen und immer noch konzeptionell genutzt werden können. Ich denke etwa an das Dialogforum „Vorhof der Völker“, das in vielen Städten der Welt gefeiert und von Kardinal Gianfranco Ravasi geleitet wird. Der Dialog zwischen Gläubigen und Nicht-Gläubigen scheint mir von wesentlicher Bedeutung zu sein in einem Kontext sozialer, politischer und spiritueller Polarisierung, in dem es allzu leicht ist, einem plumpen und vereinfachenden Manichäismus zu erliegen. Ich glaube, dass seine Bereitschaft, die säkulare Kultur in all ihren Formen und Ausprägungen zu verstehen, eine unverzichtbare und unentbehrliche Aufgabe ist, ebenso wie die Kritik am technokratischen Paradigma, das in unserem kulturellen Umfeld unkritisch vorherrscht.


Welchen Einfluss hat Joseph Ratzinger über die „akademische“ Theologie hinaus auf Ihr persönliches Leben?

Pablo Blanco: Es hat mich die Kraft der Berufung und die Verfügbarkeit für den Dienst, worin er auch immer bestehen mag, gelehrt. Ratzinger hat in seinem Leben einige Dinge getan, die er nicht tun wollte, aber er hat sie ziemlich gut gemacht, weil er immer dachte, dass er seiner Berufung und dem Willen Gottes folgte. Er hat seine Talente in den Dienst Gottes gestellt: von seiner ersten Antwort auf den Ruf zum Priestertum bis hin zur Geste des Rücktritts. Diese Verfügbarkeit gibt mir oft Anlass zum Nachdenken.

Francesc Torralba: Für meine Tätigkeit als Professor für Philosophie und Theologie bedeutet sie Strenge, Aufgeschlossenheit und Kreativität. Sie schafft neue und einzigartige Ausdrucksformen, die weiterentwickelt werden müssen, und antizipiert Zukunftsszenarien, die Realität werden. Wir müssen gründlich darüber nachdenken, was es bedeutet, eine kreative Minderheit zu sein, wie wir den Prozess der Säkularisierung mit Würde überstehen, wie wir auf die Diktatur des Relativismus und des Fundamentalismus reagieren und wie wir das Christentum in unserer Welt verständlich und sinnvoll darstellen können. Ich glaube, dass Joseph Ratzinger eine Theologie ausarbeitet, die, ohne an akademischer Strenge zu verlieren, in der Lage ist, den spirituellen Herzschlag der heutigen Welt widerzuspiegeln, und angesichts der großen Herausforderungen Stellung zu beziehen. Besonders inspiriert bin ich von seiner Rezeption der großen zeitgenössischen Philosophen.

 

Pablo Blanco Sarto (59) ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Navarra. Er arbeitet mit dem „Institut Papst Benedikt XVI“ in Regensburg zusammen, und ist Mit-Herausgeber der Gesammelten Werke von Joseph Ratzinger in spanischer Sprache beim „B.A.C.“-Verlag. Er ist Priester des Opus Dei.

Francesc Torralba Rosellò (56) ist Philosoph, Theologe, Pädagoge und Historiker. Derzeit lehrt er an der Universität „Ramon Llull“ in Barcelona und hält Kurse und Seminare an anderen Universitäten in Spanien und den USA. Er ist verheiratet und Vater von fünf Kindern.

Das Interview erschien in der katholischen Zeitung „Die Tagespost“.