Inkarnation und Kreuz
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Benedikt XVI. betet vor dem Kreuz. Taize-Treffen in Rom am 29. Dezember 2012.
In der Geschichte des christlichen Glaubens haben sich bei der Betrachtung Jesu zwei Linien immer wieder auseinanderentwickelt: die Theologie der Inkarnation, die vom griechischen Denken aufstieg und in der katholischen Tradition des Ostens und Westens herrschend wurde, und die Theologie des Kreuzes, die im Anschluss an Paulus und die frühesten Formen christlichen Glaubens im reformatorischen Denken entscheidend zum Durchbruch kam.
Die Erstere redet vom Sein und kreist um die Tatsache, dass da ein Mensch Gott ist und dass damit zugleich Gott Mensch ist; dies Ungeheuerliche wird ihr das alles Entscheidende. Vor diesem Geschehnis des Einsseins von Mensch und Gott, der Mensch-Werdung Gottes, verblassen alle Einzelgeschehnisse, die noch folgten. Sie können demgegenüber nur noch sekundär sein; das Ineinandertreffen von Gott und Mensch erscheint als das wahrhaft Entscheidende, Erlösende, als die wirkliche Zukunft des Menschen, auf die schließlich alle Linien zugehen müssen.
Die Theologie des Kreuzes dagegen will sich auf solche Ontologie nicht einlassen; sie spricht stattdessen vom Ereignis; sie folgt dem Zeugnis des Anfangs, der noch nicht nach dem Sein fragte, sondern nach dem Handeln Gottes in Kreuz und Auferstehung, das den Tod besiegte und Jesus als den Herrn und als die Hoffnung der Menschheit erwies.
Vom jeweiligen Ansatz ergibt sich die unterschiedliche Tendenz: Inkarnationstheologie tendiert zu einer statischen und zu einer optimistischen Sicht. Die Sünde des Menschen erscheint leicht als ein Durchgangsstadium von ziemlich untergeordneter Bedeutung. Das Entscheidende ist dann nicht, dass der Mensch in der Sünde ist und geheilt werden muss, es geht weit über eine solche Reparation des Vergangenen hinaus und liegt im Zugehen auf den Ineinanderfall von Mensch und Gott. Die Kreuzestheologie führt demgegenüber eher zu einer dynamisch-aktualen, weltkritischen Auffassung des Christentums, das dieses gleichsam nur als den diskontinuierlich je neu auftretenden Bruch in der Selbstsicherheit und Selbstgewissheit des Menschen und seiner Institutionen, einschließlich der Kirche, versteht.
Wer diese beiden großen geschichtlichen Formen des christlichen Selbstverständnisses einigermaßen vor Augen hat, wird gewiss nicht zu vereinfachenden Synthesen versucht sein. In den beiden grundlegenden Strukturformen von Inkarnations- und Kreuzestheologie sind Polaritäten aufgerissen, die man nicht in eine reinliche Synthese hinein übersteigen kann, ohne das Entscheidende von beiden zu verlieren; sie müssen als Polaritäten gegenwärtig bleiben, die sich selbst gegenseitig korrigieren und nur in ihrem Zueinander auf das Ganze verweisen.
Einführung in das Christentum (1968), München 112011, 215 f.