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Die „Diktatur des Relativismus“ und das Maß des wahren Humanismus

In seiner Predigt bei der „Missa Pro Eligendo Romano Pontifice“ am 18. April 2005 im Petersdom benennt Kardinal Joseph Ratzinger mit dramatischen Worten die zentrale Herausforderung der Kirche heute. Sie muss inmitten massiver ideologischer Verwerfungen und widerstreitender Meinungen Zeuge der Wahrheit sein.

 

Lesungen: Jes 61,1–3a. 6a. 8b–9;
Eph 4,11–16;
Joh 15,9–17

Als Dekan des Kardinalskollegiums stand Joseph Ratzinger der Eucharistiefeier vor und hielt die Predigt.

Einordnung 
Die Welt schaute nach Rom. Die eindrucksvollen Bilder von Pilgermassen, die durch die Straßen der Ewigen Stadt drängten, um sich von Johannes Paul II. zu verabschieden, waren noch in frischer Erinnerung. Als Dekan des Kardinalskollegiums hatte Joseph Ratzinger den Trauerfeierlichkeiten für den verstorbenen Jahrtausend-Papst aus Polen vorgestanden. Nun hatten sich die Kardinäle versammelt, um seinen Nachfolger zu wählen. Vor dem Einzug ins Konklave feierten sie eine Messe im Petersdom. Ratzinger zelebrierte und hielt die Predigt.

Auf welche Fragen antwortet dieser Text?
Vor welchen massiven Herausforderungen steht christlicher Glaube heute? Wie kann man diese bestehen? Was heißt es, sein Christsein unter einer „Diktatur des Relativismus“ zu leben? Was braucht es dafür? Und was versteht man unter einem „erwachsenen Glauben“?

In dieser verantwortungsvollen Stunde hören wir mit besonderer Aufmerksamkeit auf das, was der Herr uns mit seinen eigenen Worten sagt. Aus den drei Lesungen möchte ich nur einige Abschnitte auswählen, die uns in einem Augenblick wie diesem direkt betreffen.

Die Erste Lesung bietet ein prophetisches Bild der Figur des Messias – ein Bild, das seine ganze Bedeutung von dem Augenblick her erhält, als Jesus, der diesen Text in der Synagoge von Nazaret liest, sagt: »Heute hat sich dieses Schriftwort erfüllt« (Lk 4,21). Im Zentrum des prophetischen Textes stoßen wir auf ein Wort, das – zumindest auf den ersten Blick – widersprüchlich erscheint. Der Messias, der von sich spricht, sagt, er sei gesandt worden, damit er »ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe, einen Tag der Vergeltung unseres Gottes« (Jes 61,2).

Jesus Christus ist die göttliche Barmherzigkeit in Person: Christus begegnen heißt, der Barmherzigkeit Gottes begegnen.

Wir hören voll Freude die Ankündigung des Jahres der Barmherzigkeit: die göttliche Barmherzigkeit setzt dem Bösen eine Grenze – hat der Heilige Vater uns gesagt. Jesus Christus ist die göttliche Barmherzigkeit in Person: Christus begegnen heißt, der Barmherzigkeit Gottes begegnen. Der Auftrag Christi ist durch die priesterliche Salbung zu unserem Auftrag geworden; wir sind aufgerufen, »das Jahr der Barmherzigkeit des Herrn« nicht nur mit Worten, sondern mit dem Leben und mit den wirksamen Zeichen der Sakramente zu verkünden.

Unmittelbar vor ihrem Einzug ins Konklave versammelten sich die Kardinäle im Petersdom zur „Missa Pro Eligendo Romano Pontifice“.

Was aber will Jesaja sagen, als er den »Tag der Vergeltung unseres Gottes« ankündigt? Jesus hat in Nazaret, als er den Text des Propheten las, diese Worte nicht ausgesprochen – er schloß mit der Ankündigung des Jahres der Barmherzigkeit. War das vielleicht der Anlass zu der Empörung, die nach seiner Predigt aufkam? Wir wissen es nicht.

Auf jeden Fall hat der Herr seinen authentischen Kommentar zu diesen Worten durch den Tod am Kreuz abgegeben. »Er hat unsere Sünden mit seinem Leib auf das Holz des Kreuzes getragen…«, sagt der hl. Petrus (1 Petr 2,24). Und der hl. Paulus schreibt an die Galater: »Christus hat uns vom Fluch des Gesetzes freigekauft, indem er für uns zum Fluch geworden ist; denn es steht in der Schrift: Verflucht ist jeder, der am Pfahl hängt. Jesus Christus hat uns freigekauft, damit den Heiden durch ihn der Segen Abrahams zuteil wird und wir so aufgrund des Glaubens den verheißenen Geist empfangen« (Gal 3,13).

Die Barmherzigkeit Christi ist keine billig zu habende Gnade, sie darf nicht als Banalisierung des Bösen missverstanden werden.

Die Barmherzigkeit Christi ist keine billig zu habende Gnade, sie darf nicht als Banalisierung des Bösen missverstanden werden. Christus trägt in seinem Leib und in seiner Seele die ganze Last des Bösen, dessen ganze zerstörerische Kraft. Er verbrennt und verwandelt das Böse im Leiden, im Feuer seiner leidenden Liebe. Der Tag der Vergeltung und das Jahr der Barmherzigkeit fallen im Ostermysterium, im toten und auferstandenen Christus zusammen. Das ist die Vergeltung Gottes: Er selbst leidet in der Person des Sohnes für uns. Je mehr wir von der Barmherzigkeit des Herrn berührt werden, um so mehr solidarisieren wir uns mit seinem Leiden, werden wir bereit, »das, was an den Leiden Christi noch fehlt« (Kol 1,24), in unserem Leib zu ergänzen.

Gehen wir zur Zweiten Lesung über, zum Brief an die Epheser. Hier geht es im wesentlichen um drei Dinge: erstens um die Ämter und Charismen in der Kirche als Gaben des auferstandenen und in den Himmel aufgefahrenen Herrn; sodann um das Heranreifen des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes als Voraussetzung und Inhalt der Einheit im Leib Christi; und schließlich um die gemeinsame Teilnahme am Wachsen des Leibes Christi, das heißt an der Umgestaltung der Welt in die Gemeinschaft mit dem Herrn.

Wir verweilen nur bei zwei Punkten. Der erste ist der Weg zur »Reife Christi«, wie es etwas vereinfachend im italienischen Text heißt. Dem griechischen Text nach müßten wir genauer von dem »Maß der Fülle Christi« sprechen, die zu erreichen wir gerufen sind, um wirklich Erwachsene im Glauben zu sein. Wir sollen nicht Kinder im Zustand der Unmündigkeit bleiben.

Blick auf die Kardinäle bei der Messe der Papstwahl. Unter Ihnen ist der Nachfolger Johannes Paul II

Es entsteht eine Diktatur des Relativismus, die nichts als endgültig anerkennt und als letztes Maß nur das eigene Ich und seine Gelüste gelten läßt. Wir haben jedoch ein anderes Maß: den Sohn Gottes, den wahren Menschen. Er ist das Maß des wahren Humanismus.

Was heißt, unmündige Kinder im Glauben sein? Der hl. Paulus antwortet: Es bedeutet, »ein Spiel der Wellen zu sein, hin- und hergetrieben von jedem Widerstreit der Meinungen…« (Eph 4, 14). Eine sehr aktuelle Beschreibung!

Wie viele Glaubensmeinungen haben wir in diesen letzten Jahrzehnten kennengelernt, wie viele ideologische Strömungen, wie viele Denkweisen… Das kleine Boot des Denkens vieler Christen ist nicht selten von diesen Wogen zum Schwanken gebracht, von einem Extrem ins andere geworfen worden: vom Marxismus zum Liberalismus bis hin zum Libertinismus; vom Kollektivismus zum radikalen Individualismus; vom Atheismus zu einem vagen religiösen Mystizismus; vom Agnostizismus zum Synkretismus, und so weiter.

Jeden Tag entstehen neue Sekten, und dabei tritt ein, was der hl. Paulus über den Betrug unter den Menschen und über die irreführende Verschlagenheit gesagt hat (vgl. Eph 4,14). Einen klaren Glauben nach dem Credo der Kirche zu haben, wird oft als Fundamentalismus abgestempelt, wohingegen der Relativismus, das sich »vom Windstoß irgendeiner Lehrmeinung Hin-und-hertreiben-lassen«, als die heutzutage einzige zeitgemäße Haltung erscheint.

Es entsteht eine Diktatur des Relativismus, die nichts als endgültig anerkennt und als letztes Maß nur das eigene Ich und seine Gelüste gelten läßt. Wir haben jedoch ein anderes Maß: den Sohn Gottes, den wahren Menschen. Er ist das Maß des wahren Humanismus.

Der Glaube muss erwachsen werden

»Erwachsen« ist nicht ein Glaube, der den Wellen der Mode und der letzten Neuheit folgt; erwachsen und reif ist ein Glaube, der tief in der Freundschaft mit Christus verwurzelt ist. Diese Freundschaft macht uns offen gegenüber allem, was gut ist und uns das Kriterium an die Hand gibt, um zwischen wahr und falsch, zwischen Trug und Wahrheit zu unterscheiden. Diesen erwachsenen Glauben müssen wir reifen lassen, zu diesem Glauben müssen wir die Herde Christi führen. Und dieser Glaube – der Glaube allein – schafft die Einheit und verwirklicht sich in der Liebe.

Dazu bietet uns der hl. Paulus – im Gegensatz zu den ständigen Sinnesänderungen derer, die wie Kinder von den Wellen hin- und hergeworfen werden – ein schönes Wort: die Wahrheit tun in der Liebe, als grundlegende Formel der christlichen Existenz. In Christus decken sich Wahrheit und Liebe. In dem Maße, in dem wir uns Christus nähern, verschmelzen auch in unserem Leben Wahrheit und Liebe. Die Liebe ohne Wahrheit wäre blind; die Wahrheit ohne Liebe wäre wie »eine lärmende Pauke« (1 Kor 13,1).

Wir kommen nun zum Evangelium, aus dessen Fülle ich nur zwei kleine Bemerkungen entnehme. Der Herr richtet an uns diese wunderbaren Worte: »Ich nenne euch nicht mehr Knechte … Vielmehr habe ich euch Freunde genannt« (Joh 15, 15). So oft haben wir das Gefühl, dass wir – wie es ja zutrifft – nur unnütze Knechte sind (vgl. Lk 17,10). Und trotzdem nennt der Herr uns Freunde, er macht uns zu seinen Freunden, er schenkt uns seine Freundschaft.

In seiner Predigt warnte Joseph Ratzinger vor einer „Diktatur des Relativismus“ und sorgte damit weltweit für Aufsehen.

Er hat uns zu seinen Freunden gemacht – und welche Antwort geben wir?

Der Herr definiert die Freundschaft auf eine zweifache Weise. Zwischen Freunden gibt es keine Geheimnisse: Christus sagt uns alles, was er vom Vater hört; er schenkt uns sein volles Vertrauen und mit dem Vertrauen auch die Erkenntnis. Er offenbart uns sein Antlitz, sein Herz. Er zeigt uns seine liebevolle Zuwendung zu uns, seine leidenschaftliche Liebe, die bis zur Torheit des Kreuzes geht.

Er vertraut sich uns an, er verleiht uns die Vollmacht, durch sein Ich zu sprechen: »Das ist mein Leib…«, »ich spreche dich los…«. Er vertraut uns seinen Leib, die Kirche, an. Er vertraut unserem schwachen Geist, unseren schwachen Händen seine Wahrheit an – das Geheimnis von Gott, Vater, Sohn und Heiligem Geist; das Geheimnis von Gott, der »die Welt so sehr geliebt hat, dass er seinen einzigen Sohn hingab« (Joh 3,16). Er hat uns zu seinen Freunden gemacht – und welche Antwort geben wir?

Das zweite Element, mit dem Jesus die Freundschaft definiert, ist die Übereinstimmung des Willens. »Idem velle – idem nolle« war auch für die Römer die Definition von Freundschaft. »Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch auftrage« (Joh 15,14). Die Freundschaft mit Christus entspricht dem, was die dritte Bitte des Vaterunsers ausdrückt: »Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden«.

Jesus hat das ganze Drama unserer Autonomie erlitten.

In der Stunde von Getsemani hat Jesus unseren widerspenstigen menschlichen Willen in einen Willen verwandelt, der dem göttlichen Willen entspricht und mit ihm verbunden ist. Er hat das ganze Drama unserer Autonomie erlitten – und gerade dadurch, dass er unseren Willen in Gottes Hände legt, schenkt er uns die wahre Freiheit: »Aber nicht wie ich will, sondern wie du willst« (Mt 26,39). In dieser Übereinstimmung des Willens vollzieht sich unsere Erlösung: Freunde Jesu sein, Freunde Gottes werden. Je mehr wir Jesus lieben, je mehr wir ihn kennen, um so mehr wächst unsere wahre Freiheit, wächst die Freude darüber, erlöst zu sein. Danke Jesus, für deine Freundschaft!

Das andere Element des Evangeliums, auf das ich hinweisen wollte, ist die Rede Jesu über das Fruchtbringen: »Ich habe euch dazu bestimmt, dass ihr euch aufmacht und Frucht bringt und dass eure Frucht bleibt« (Joh 15,16). Hier erscheint die Dynamik der Existenz des Christen, des Apostels: Ich habe euch dazu bestimmt, dass ihr euch aufmacht… Wir müssen von einer heiligen Unruhe beseelt sein: der Unruhe, allen das Geschenk des Glaubens, der Freundschaft mit Christus zu bringen.

Jospeh Ratzinger in sich gekehrt, betend

Was bleibt am Ende? Das einzige, was ewig bleibt, ist die menschliche Seele, der von Gott für die Ewigkeit erschaffene Mensch.

In Wahrheit ist uns die Liebe, die Freundschaft Gottes geschenkt worden, damit sie auch die anderen erreiche. Wir haben den Glauben empfangen, um ihn an die anderen weiterzugeben, wir sind Priester, um anderen zu dienen. Und wir müssen Früchte hervorbringen, die bleiben. Alle Menschen wollen eine Spur hinterlassen, die bleibt. Aber was bleibt? Das Geld nicht. Auch die Gebäude bleiben nicht; ebensowenig die Bücher. Nach einer gewissen, mehr oder weniger langen Zeit verschwinden alle diese Dinge. Das einzige, was ewig bleibt, ist die menschliche Seele, der von Gott für die Ewigkeit erschaffene Mensch.

Die Frucht, die bleibt, ist daher das, was wir in die menschlichen Seelen gesät haben – die Liebe, die Erkenntnis; die Geste, die das Herz zu berühren vermag; das Wort, das die Seele der Freude des Herrn öffnet. Brechen wir also auf und bitten den Herrn, er möge uns helfen, Frucht zu bringen, eine Frucht, die bleibt. Nur so wird die Erde vom Tal der Tränen in einen Garten Gottes verwandelt.

Beten wir um einen Hirten, der uns zur Erkenntnis Christi, zu seiner Liebe, zur wahren Freude führt.

Wir kommen schließlich noch einmal auf den Epheserbrief zurück. Der Brief sagt – mit den Worten des 68. Psalms – , dass Christus, als er in den Himmel auffuhr, »den Menschen Geschenke gab« (Eph 4,8). Der Sieger verteilt Geschenke. Und diese Geschenke sind Apostel, Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrer. Unser Amt ist ein Geschenk Christi an die Menschen, um seinen Leib – die neue Welt – aufzubauen. Leben wir also unser Amt als Geschenk Christi an die Menschen!

Aber in dieser Stunde beten wir vor allem inständig zum Herrn, dass er uns nach dem großen Geschenk Papst Johannes Pauls II. wieder einen Hirten nach seinem Herzen schenke, einen Hirten, der uns zur Erkenntnis Christi, zu seiner Liebe, zur wahren Freude führt. Amen.

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